Lebensbilder in der Nachkriegszeit

Kindheit und Jugend in Reichenschwand

 

Man kann mich als Kriegskind bezeichnen, da ich zwischen zwei Bombenangriffen 1941 in Nürnberg zur Welt kam. Nachdem die Stadt 1942 groß zerstört war, siedelte meine Familie ins ländliche Reichenschwand um, wo ich meine Kindheit und Jugend verbrachte.

 

Die ersten acht Jahre quartierte man uns in das örtliche Pfarrhaus ein, das über einen großen Schrebergarten verfügte. Danach wohnten wir im hiesigen Grundschulhaus. Glücklicherweise mussten wir nie hungern, da es Obst und Gemüse aus dem Garten, Milch vom Bauern und Kartoffeln vom nahegelegenen Acker sowie „Gehamstertes“ von meiner Mutter gab. Zusätzlich bezogen wir Lebensmittelmarken, die uns einmal pro Woche mit Waren vom Metzger versorgten. Die Auswahl war nicht groß: Man bekam entweder Leberkäse mit Soße, Rinderblut zum Braten oder mit Kartoffeln gestreckte Wurst (Presssack). Wir aßen, was wir kriegen konnten!

 

Das tägliche Leben spielte sich hauptsächlich in der Wohnküche ab. Dort wurden nicht nur die Speisen zubereitet, sondern auch die Hausaufgaben verrichtet. Ein mit Holz befeuerter Küchenherd diente zum Kochen und Heizen des Raumes. Das notwendige Brennholz holten wir mit einem Leiterwagen aus dem Wald. Im Inneren des Herdes befand sich ein Wasserschaff mit Deckel (Gefäß aus Kupfer oder Messing), aus dem wir je nach Hitze des Herdfeuers warmes oder heißes Wasser schöpfen konnten.

 

Größere Schmutzwäsche- oder Badeaktionen fanden meist an den Samstagen statt. Dafür schürte meine Mutter den großen Kessel in der Waschküche an. Auch die "Metzelsuppe" – eine kräftige Wurstbrühe – wurde darin zum Sieden gebracht, wenn Schlachttag anstand

 

Die Volksschule saß ich mit der linken Backe ab. Das war nicht verwunderlich, da meine Eltern den Lehrerberuf ausübten. Als ich 1951 die Aufnahmeprüfung für die Oberschule bestand, kam ich auf das Neue Gymnasium Nürnberg – damals ein halb ausgebombtes Gebäude, das sich gegenüber dem Hauptbahnhof befand. Im Winter wurden die Klassenzimmer mit Kanonenöfen beheizt und in den Pausen Schulspeisung ausgegeben. Später verköstigte man uns mit warmen Milch- und Kakaoflaschen aus gasbeheizten Thermosbehältern. Morgens fuhren wir mit Dampflok gezogenen Personenzügen zur Schule und abends ging es mit gasbeleuchteten Wagons wieder nach Hause. Ich saß mit den frechsten Schülern immer im letzten Wagen, wo wir so meist nur Blödsinn anstellten. Als Fahrkarten benutzten wir Monatskarten aus fester Pappe, die an den Bahnhofssperren gelocht wurden. Noch heute erinnere ich mich an die von Tieffliegern zerschossenen Lokomotiven, die auf den Abstellgleisen des Schnaittacher Bahnhofs standen. Bis das neue Schulgebäude am Luitpoldhain in der Weddigenstraße errichtet wurde, vergingen einige Jahre. Aber unser Jahrgang konnte Gott sei Dank ab 1959 dieses neue Gebäude noch vier Jahre bis zum Abitur genießen.

 

Die ersten Schuljahre auf dem Gymnasium zeigten mäßige Erfolge. Ich arbeitete mich so durch – nach dem Motto: „Überleben ist alles“. Meine Lieblingsfächer Musik, Biologie, Erdkunde und Chemie waren leider Nebenfächer und in Deutsch eine gute Note zu haben, bedeutete ein zwingendes Muss – stammte ich doch aus einem hochbelesenen Elternhaus, wo die Mutter den deutschen Balladenschatz noch im hohen Alter auswendig hersagen konnte.

 

Die Pflichtfächer Latein und Griechisch gehörten nicht zu meinen Stärken. Leider lebte mein Großvater nicht mehr, sodass er mich in diesen Sprachen bis zum Abitur hätte begleiten können. Er konnte Homers Ilias und Odyssee ohne Mühe auf Griechisch deklamieren. Der Weg zur Matura war ein Lauf mit Hürden, der trotzdem noch Raum für angenehme Dinge ließ. So wandte ich mich beispielsweise mit Freude dem anderen Geschlecht zu. Da unsere Schule stark künstlerisch ausgerichtet war und im Nürnberger Raum einen nahezu elitären Ruf genoss, musste so mancher Unterricht diversen Theateraufführungen oder Orchesterproben weichen. Das Bestehen der Abiturprüfungen war demzufolge eine Aktion mit Mut zum Risiko. Aber es gelang!

 

Studienjahre in Nürnberg

 

Bei der Wahl des Studiums reagierte meine Familie zunächst mit Kopfschütteln. Fächer wie Volkswirtschaft, Psychologie oder Soziologie galten als abwegig.Irgendwie wurden von einem humanistischen Gymnasiasten Germanistik, Medizin, Pharmazie, Philologie erwartet. Ich bin die Abwege gegangen und hatte nichts mit Naturwissenschaften, Medizin oder Pharmazie am Hut, wie "man" es erwartet hätte.

 

Als ich dann auch noch nach dem Studium bei erz-kapitalistischen amerikanischen Konzernen wie General Electric (GE) und National Cash Register (NCR) ins Management eintrat, war das Kopfschütteln umso größer.

 

Eigentlich war unsere Studentengeneration in den höheren Semestern bereits mit dem Virus der kommenden 68er-Bewegung infiziert. „Man“ war Mitglied im Sozialistischen Hochschulbund (SHB) und mischte im Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) leicht links getönt mit. Einige unserer Dozenten hielten Spitzenseminare über den Marxismus-Leninismus im Systemvergleich mit dem Kapitalismus. Auch die Mao-Bibel war schon im Umlauf.

 

Irgendwie habe ich den Verrat an der großen Revolution ohne größere Schäden überstanden. Es war so ähnlich wie später bei den grünen Politikern Trettin und Fischer – vom Fundi zum Realo. Statt die Gesellschaft Zug um Zug durch alle Instanzen zu verändern, ließ man sich irgendwann des Kampfes müde in das weiche Daunenbettchen der bürgerlichen Gesellschaft fallen. Wie die Lateiner sagen: „Pecunia non olet“ – Geld stinkt nicht! Aber dessen ungeachtet schlägt immer noch ein altrevolutionäres Herz im 68er-Takt in mir – insbesondere nach mehreren „Pilschen“ am Stammtisch

Der Pensionist

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© Dr. Reimar Sebiger